Die erste, halb phantastische Beschreibung Wiens in einem Werk des russischen Schrifttums begegnet in der sogenannten Povest' o dvuch posol'stvach (Erzählung von den zwei Gesandtschaften), deren Handlung im 16. Jahrhundert spielt und die um 1614, nach dem Abklingen der Zeit der Wirren, verfaßt wurde. Der Text ist jetzt leicht zugänglich.1)
Den realen Hintergrund dieser Erzählung bilden zwei Gesandtschaften Ivans IV., eine 1571 zum osmanischen Sultan Murad, die zweite 1576 zu Kaiser Maximilian II. nach Regensburg, wobei der spätere Autor der Povest' den Schauplatz letzterer nach Wien verlegt.2)
Es lohnt nicht, den konfusen Text auch nur in Auszügen hier zu präsentieren. Der Realitätsgehalt der in der Povest' enthaltenen Schilderung Wiens wohl vom Hörensagen ist recht gering. Gemeint ist anscheinend die Stubenbastei mit ihren Vorwerken zum Wienfluß hin. Wie auch in späteren Beschreibungen Wiens (etwa bei Petr Andreevic Tolstoj am Ende des 17. Jahrhunderts) wird vor allem erwähnt, daß alle Häuser aus Stein (d. h. gemauert) sind. Die erwähnten bunten spitzen Dächer z. T. aus Kupfer dürften der damaligen Wirklichkeit entsprechen, das viele Gold und gar die Edelsteine an den Fassaden waren Zutat des Verfassers. Formal erinnert die Povest' an die offiziellen Gesandtschaftsberichte, die sogenannten Statejnye spiski, wie sie in großer Zahl, unter anderem auch von den beiden hier erwähnten Gesandtschaften, überliefert und veröffentlicht sind.3)
Aus den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts stammen zwei ausführliche, kulturgeschichtlich belangvolle und mit den damaligen Maßstäben gemessen - gut und anregend geschriebene echte Berichte von russischen Reisenden, die in amtlichem oder offiziösem Auftrag nach Italien unterwegs waren und in Wien einen längeren Zwischenaufenthalt einlegten. Wien als Zwischenstation mit literarischem Ertrag ist damit als Phänomen etabliert, das bis in unsere Tage reicht. Auch berühmte Wiener Ärzte zogen zahlungskräftige russische Gäste an von Fonvizin über Gogol' bis zu Turgenev, Nekrasov und Aleksej Konstantinovic Tolstoj.
Die beiden Würdenträger Peters d. Großen, die in Wien Aufenthalt nahmen, waren Angehörige hochangesehener Adelsgeschlechter. Es handelt sich um die Grafen Petr Andreevic Tolstoj (1645-1729) und Boris Petrovic Šeremetev (1652-1719). Tolstoj führte den Titel eines stol'nik (Truchseß), Šeremetev war Bojar und sieggekrönter Feldmarschall.
Beide waren im Auftrage des Zaren unterwegs nach Italien. Der schon über fünfzig Jahre alte Tolstoj sollte sich in Venedig in der Nautik ausbilden lassen, er kam nach Wien als durchreisender Privatmann. Šeremetev erschien hierorts mit großem Gefolge und reichen Geschenken als Sondergesandter und sollte vor allem beim Papst und beim souveränen Malteserorden das Terrain für ein gemeinsames Vorgehen gegen die Türken sondieren.4)
Höhepunkte der recht ausführlichen Wien-Berichte sind bei Tolstoj die detaillierte Schilderung der Fronleichnamsprozession, an der auch Kaiser Leopold I. teilnahm, bei Šeremetev bzw. seinem Sekretär die showmäßig aufgezogene Audienz bei demselben Herrscher. Šeremetev hat von der Audienz einen Stich anfertigen lassen, der dem Betrachter die Prachtentfaltung und den Pomp vergegenwärtigen soll. Der Bericht Šeremetevs erschien, von seinem Sohn herausgegeben, 1773 in St. Petersburg im Druck und gilt als große Seltenheit. Die Österreichische Nationalbibliothek besitzt ein tadelloses schön gebundenes Exemplar aus der Bibliothek des Grafen Razumovsky mit handschriftlicher Widmung, an meinem Exemplar hat der Zahn der Zeit kräftig genagt. D as Reisetagebuch P. A. Tolstojs wurde im Russkij Archiv 1881, Bd. 1, veröffentlicht, der "österreichische" Teil S. 201-204 u. 321-337.5)
Neunzig Jahre nach Tolstoj und Šeremetev weilte der erste bedeutende russische Lustspieldichter Denis Ivanovic Fonvizin hier in Wien und im benachbarten Baden, um Heilung von seinem Leiden zu finden (1785, 1786, 1787). Die Behandlungsmethoden waren damals eher rauh. Die Roßkur in Baden beschreibt der Dichter in einem Brief. Männlein und Weiblein mußten, nur mit einem Hemd bekleidet, eine ganze Stunde im Schwefelthermalwasser bis zum Hals stehen.6)
Fonvizin hat übrigens mit einer "Gesellschaft von Freunden" hier in Wien oder in Baden sein Hauptwerk, die Komödie Nedorosl', als das "Muttersöhnchen" ins Deutsche übersetzt und 1787 bei Rudolf Gräffer in Wien zum Druck gebracht. Dieses frühe Beispiel russisch-österreichischer Literaturbeziehungen wurde erst 1959 bekannt durch zwei gleichzeitige Veröffentlichungen in Berlin und in Wien. Die Übersetzung ist insofern "imagologisch" von Belang, als daß sie den komischdreisten Kutscher und selbsternannten deutschen Lehrer Vral'man durch einen Franzosen, Du Bavard, ersetzt, der an Lessings Riccaut erinnert.
Es ist verständlich, daß die Napoleonischen Kriege und der Wiener Kongreß, die Rußland und Österreich als Verbündete sahen, einen lebhafteren Besucherzustrom von Militärs, Diplomaten und anderen Persönlichkeiten im Gefolge hatten. Der Salon des russischen Gesandten Graf Razumovsky, der sich früh ins Privatleben zurückzog, war einer der kulturellen Mittelpunkte Wiens. Razumovsky hat Mozart, Haydn und Beethoven persönlich gut gekannt und z. T. gefördert.
Ausführlichere Beschreibungen von Wien hat unter anderen ein wenig bekannter russischer Autor hinterlassen. Der südrussische Gutsbesitzer und spätere Senator Fedor Petrovic Ljubjanskij unternahm als Zweiundzwanzigjähriger 1800 bis 1802 eine Bildungsreise nach Sachsen, Österreich und Italien, über die er im Jahre 1805 ein dreibändiges, in Wien unzugängliches Werk veröffentlichte.7)
Angeknüpt an diesen gedruckten Reisebericht sei hier eine Bemerkung allgemeiner Art: Selbst ein so eng begrenzter Teilbereich wie die Reiseberichte über Österreich beweist die unikale Kontinuität des literarischen Genres Reisebeschreibung über alle Epochengrenzen der russischen Literatur hinweg. Der älteste derartige Bericht über einen Teil unseres Landes stammt aus dem Jahre l437!
Von der landschaftlichen Umgebung Wiens ist Ljubjanskij begeistert, ebenso von der Lage der Stadt, die damals, vor der Regulierung, noch wirklich am Fluß lag; gegenüber der Metropole selbst und ihren Bewohnern ist er skeptisch. Von der Architektur der Wohnhäuser hält er nichts: die Architekten hätten sich wohl auf das Schreiben von Rechnungen beschränkt. Die Hofburg ist für Ljubjanskij ein Haufen geschmacklos aneinandergefügter alter Gebäude. In der Kapuzinergruft bewundert er den Sarkophag Maria Theresias und ihres Gemahls. Sehr zu Recht hebt er den kompletten Apparat an medizinischen Wachsmodellen im Josephinum hervor, heute noch eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, die kaum ein Wiener kennt, geschweige denn gesehen hat.
Das gestörte oder wenn man will gesunde Verhältnis der Wiener zur Arbeit fiel Ljubjanskij auf: "allmählich kommt man drauf, daß wenigstens die Hälfte der Bewohner nur damit beschäftigt ist, nichts zu tun". Sie gehen in den Augarten, um zu frühstücken, in die Kaffeehäuser, um Zeitung zu lesen, dann essen sie zu Mittag; nachdem sie sich ausgeruht haben, lustwandeln sie im Prater, dann geht's ins Theater, aus dem Theater auf den Wall, dann auf den Graben, von dort geradewegs ins Bett. "In Wien pflegt man zu frühstücken, Mittag zu essen, zu jausnen und zu soupieren, und dazwischen ißt man den ganzen Tag." Die Wiener veressen, meint Ljubjanskij, am Sonntag ihren gesamten Wochenlohn.
Man sieht, das Schillersche Phäaken-Klischee taucht hier zum ersten Male in der russischen Wien-Literatur auf. Die Wiener, so wundert sich der russische Reisende, begeben sich nicht etwa zu Fuß in den nahen Prater, sondern benutzen Equipagen, obwohl diese, dicht gedrängt, in Viererreihen kaum vorwärts kommen. "Nichts Neues unter der Sonne", könnte man angesichts des heutigen Verkehrschaos seufzen, nur daß die Pferde durch Pferdestärken ersetzt wurden.
Die großen Kaffeehäuser sind für den Wiener der übliche Zufluchsort. Es gibt [...] treue Gäste dieser Lokale, die durch Jahre hindurch keinen einzigen Tag ihnen untreu geworden sind.
Voll des Lobes ist Ljubjanskij über das Allgemeine Krankenhaus und über die Taubstummen-Lehranstalt. Im Narrenturm besucht er die 200 dort Eingeschlossenen.8)
1804 reisten die Göttinger Studenten Aleksandar Ivanovic Turgenev und Andrej Sergeevic Kajsarov in die slavischen Provinzen der Monarchie und hielten sich auch in Wien auf.9)
Gemessen an ihrem Umfang, sind die Briefe der beiden "Göttinger" Russen aus Wien nicht allzu ergiebig. Kulturhistorisch von Belang ist die Beschreibung des Besuches einer Vorlesung an der Wiener Universität und das negative Urteil darüber.
Gestern gelang es mir, auch eine Vorlesung an der hiesigen Universität zu hören. Hier sind die Lehrmethoden und die Ordnung eher unseren Moskauer ähnlich (wenigstens den früheren) als den der übrigen (protestantischen) Universitäten Deutschlands. Der Professor fragt und verlangt etwas von seinem Schüler, was unsereiner, ein von niemandem abhängiger akademischer Bürger, nicht aushielte. Bei uns, d. h. in Göttingen und anderen Universitäten, kann man eher sagen, daß der Professor von den Studenten abhängt als umgekehrt. Wenn du willst, so lerne, wenn du willst, lerne nicht, wenn du nur dem Professor für den Studienplatz zahlst, und so scheint es, diese Freiheit ist für Erwachsene viel besser, und dort kann es auch gar nicht anders sein. Hier gibt es jedoch auch Fakultätsdirektoren, von denen man weder in Rußland noch sonstwo eine Ahnung hat. Sie haben das Recht, in die Vorlesungen eines hiesigen Professors zu gehen, und sie können ihn zur Verantwortung ziehen, wenn er schlecht vorträgt, sie haben das Recht, ihm das Lehrbuch vorzuschreiben, nach dem er seine Vorlesung zu halten hat, sie können sein eigenes oder das von ihm ausgesuchte Buch beurteilen und nicht genehmigen. Die dortigen (Göttinger) Professoren wissen nichts von alledem. Alles das geht hier noch auf die Zeit der Jesuiten zurück [...]. Josef II. wollte das abschaffen, aber der jetzige Kaiser hat jene gelehrten Despoten wieder installiert. Dennoch spricht und schreibt man auch hier dank Josef jetzt ziemlich frei. Weil die Professoren hier von der Regierung besoldet werden und sie nichts von den Studenten verlangen, kümmern sie sich auch nicht sehr darum, ob man gern zu ihren Vorlesungen geht oder nicht. Ihnen fehlt jener Beweggrund wie in anderen Universitäten, besser zu lehren als ihr Kollege und ihm Hörer abspenstig zu machen, um zu mehr Geld zu kommen. Dazu kommt noch, daß auch die Studenten völlig von der Universitätsverwaltung abhängig sind. Sie können nicht den Professor hören, den sie möchten, sondern den, der nach dem Lehrplan vorgeschrieben ist.
Turgenev erwähnt dann, daß man an der Theologischen Fakultät zur lateinischen Vortragssprache zurückgekehrt sei, was die Systematiker in große Verlegenheit bringe.
Seitdenn man die Notwendigkeit von Kenntnissen der slawischen Dialekte zu empfinden begann, hat man hier wie auch an der Prager Universität Professoren der Böhmischen Literatur kreiert (sdelali), aber der Unterschied zwischen der hiesigen und der dortigen ist sehr bedeutend.
In Prag besuchen etwa fünfzig Leute diese Vorlesung, hier sind es in diesem Jahr nur zwei, und die sind verpflichtet, Tschechisch zu lernen, um später solche Posten zu bekleiden, für die man diese Sprache braucht. In Prag lieben es im Gegensatz dazu viele, die vaterländische Literatur zu kennen und von ihren Erfolgen zu hören.10)
Sehr ausführlich schreibt Aleksandar Turgenev über den Phrenologen Franz Josef Gall und seine Lehre. Er erwähnt, daß der Besuch seiner Lehrvorträge allen Untertanen des Kaisers verboten sei, weil man Gall, wie Turgenev meint, zu Recht des Materialismus bezichtige.
Beide Russen suchen in Wiener Bibliotheken nach slavischen Handschriften. In einem Kloster zeigt man ihnen anstelle des erbetenen Kodex eine Ostroger Bibel (Frühdruck aus dem Jahre 1581), überhaupt sei man in den Klöstern weniger zuvorkommend als in der Hofbibliothek. Kajsarov, der Freund und Begleiter Turgenevs, ist allem Österreichischen gegenüber recht kritisch. Nach einer Besichtigung der Schätze der Hofbibliothek, besonders ihrer Slavica, schreibt er:
Schade nur, daß diese Schätze in österreichischen Händen sind, bei solchen Leuten, die selten etwas Gutes sinnvoll verwenden. Es scheint, daß selbst fünf Josephs hintereinander ihnen den Aberglauben und sonstige ihnen eigene Tugenden nicht austreiben könnten.11)
Im Anschluß daran berichtet Kajsarov haarsträubende Zensur-Anekdoten: Man habe ein Buch über Trigonometrie inhibiert, weil schon im Titel von der Allerheiligsten Dreifaltigkeit die Rede sei.
Turgenev und Kajsarov hielten engen Kontakt zu dem russischen Botschafter Graf Razumovsky, man besuchte die Schwarzenbergsche Sommerresidenz in Dornbach und genoß von dort den Anblick der Stadt und der zwölf Donauarme. Aus einer Randbemerkung erfährt man, daß die Wiener Theater damals die Hauptattraktion für die Fremden waren.
Im Mai 1835 kam der Dichter und Schriftsteller Petr Andreevic Vjazemskij (1792-1878) zum ersten Mal auf der Durchreise aus Italien in die Donaumetropole. Er schrieb hier seinem Sohn Pavel zwei Briefe, die, literarisch ansprechend, für unser engeres Thema jedoch eher unergiebig sind. Vjazemskij berichtet über einen Ausflug in den Prater,"wo um fünf Uhr nachmittag die gesamte Crème der Gesellschaft zusammenkommt". Sein Begleiter Fürst Gagarin nannte dem Gast alle Personen dieser laterna magica. "Odnich Lichtenštejnov i Lichtenštejnich v koljaskach verchom nascital on štuk dvenadcat'"12). Guljat', (bummeln, flanieren) ist ein Schlüsselwort, das bei verschiedenen russischen Wien-Besuchern begegnet. Am bündigsten äußert sich Vjazemskij: "Venskij narod guljaka vo vsech slojach svoich"13).
Der chronologisch nächste russische Wien-Besucher darf besondere Aufmerksamkeit beanspruchen: Nikolaj Vasil'evic Gogol'. Dieser weilte 1839 und 1840 hier zur Kur. Für Gogol's weitere weltanschauliche und schriftstellerische Entwicklung war gerade der zweite Wiener Aufenthalt von besonderer Bedeutung. Er schrieb hier den berühmten Mantel und muß in Wien eine Art mystischer Erleuchtung, eine Vision, erfahren haben, die seinen weiteren Weg bestimmte.
Äußerungen Gogol's über Wien sind dagegen spärlich und eher abfällig.
Auf die Deutschen blicke ich wie auf die unausbleiblichen Insekten in jedem russischen Bauernhaus. Sie krabbeln und kriechen um mich herum, stören mich aber nicht14) - eine typisch Gogol'sche Sichtweise.
In Wien langweile ich mich, ich kenne hier fast niemanden, und im übrigen ist niemand da, mit dem man Bekanntschaft schließen sollte. Ganz Wien amüsiert sich, und die hiesigen Deutschen amüsieren sich ständig. Die Deutschen aber amüsieren sich, wie man weiß, auf eine fade Art: sie trinken Bier und sitzen an Holztischen unter Kastanienbäumen - das ist schon alles.15)
Daß solche Äußerungen auch von Klischees bestimmt waren, braucht nicht eigens betont zu werden.
Fanden wir bei Gogol' nur einige belanglose Zeilen über Wien und die Wiener, so hat der nächste prominente Besucher, der bekannte Sprachforscher und Lexikograph Izmail Ivanovic Sreznevskij (1812-1880), der wie Aleksandar Turgenev die slavischen Länder bereiste, sehr ausführlich in seinen später gedruckten Briefen an die Mutter über die Kaiserstadt berichtet.16) Sreznevskij war 1840, 1841 und 1842 in Wien, im letzten Jahr den ganzen Winter hindurch. Er verließ die Stadt nur für Kurzbesuche bei den westungarischen (heute burgenländischen) Kroaten.
Unter allen hier zu erwähnenden Berichten von Russen über Wien sind die Sreznevskijs nicht nur die einläßlichsten und genauesten, sie sind darüber hinaus auch gut und lebendig geschrieben, haben nichts von trockenem Gelehrtentum an sich. Sreznevskij erweist sich als großer Theater- und kompetenter Musikliebhaber. Deshalb erfährt man aus seinen Briefen so manches über die fünf vormärzlichen Wiener Bühnen und über das reiche Konzertleben.
Begeistert äußert sich Sreznevskij über eine Aufführung von Haydns Schöpfung und über ein Konzert Lanners. Nestroy, Carl und Schulz schätzt er als Schauspieler, versteht sie aber schlecht, da sie Wiener Dialekt sprechen. Das Opernpublikum erscheint Sreznevskij banausisch: Es ißt Eis, während die Kunst auf der Bühne Triumphe feiert17). Bei der Aufführung der Schöpfung hört er hinter sich wiederholt: "Ach, s' is' hübsch!" Er kommentiert sarkastisch: Für den Wiener ist alles hübsch, ein Leinenkleid um anderthalb Gulden ebenso wie ein nicht gerade an eine Kuh erinnerndes Gesicht ebenso wie ein göttliches Kunstwerk.
Die in so manchen Wienerliedern verewigte Stimmung des "da habts mein letztes Gwand" war Sreznevskij nicht fremd geblieben.
350.000 Bewohner, ein fröhliches sorgloses Volk, das zu essen, zu trinken, lustig zu sein versteht, ein Volk, das den letzten Zwanziger für ein Gefrorenes ausgibt und bei diesem zu den Tönen wenn schon nicht eines Lanner oder eines Moriani [ein gefeierter italienischer Tenor, G. W.], so doch wenigstens eines bettelnden Straßenmusikanten jede Erinnerung an die frühere Stierheit, jeden Gedanken an den morgigen Tag vergißt.18)
Hübsch ist der Vergleich zwischen Wien und Berlin, das Sreznevskij gleichfalls kannte: "In Berlin vergnügt man sich zwischendurch, in Wien arbeitet man zwischendurch"19).
Die lockeren Sitten während des Faschings rufen sein Kopfschütteln hervor:
Maskierte Damen sprechen unbekannte Männer an und buhlen um Aufmerksamkeit [...] jede Glückliche wartet nur auf eine günstige Gelegenheit, um sich aus dem Saal zu stehlen [...] ein solcher Ball konnte in einem kaiserlichen Saal gegeben werden.20)
Begeistert ist Sreznevskij von dem riesigen Elysium, einem Tanzlokal im Keller. Am Ende des Faschings sieht er sich in Dornbach das Baßbegraben an. Alles in allem sind Sreznevskijs Wien-Briefe ein inhaltlicher und stilistischer Glanzpunkt.
Ungefähr zur selben Zeit wie Sreznevskij weilten Michail Bakunin und Ivan Turgenev in der "zirnaja stolica Avstrii"21). Turgenev kam noch 1858 und 1873 nach Wien. Aus dem geplanten Besuch der Weltausstellung wurde nichts, der massige Turgenev stürzte beim Aussteigen und mußte mit einer Prellung eine Woche lang im Hotel das Bett hüten.
Literarisch und kulturhistorisch ergiebiger sind aus dem 19. Jahrhundert noch zwei Klassiker-Texte: ein Feuilleton Nikolaj Semenovic Leskovs und ein Brief Cechovs. Es handelt sich um Leskovs Skizze Imperator Franc Iosif bez etiketa22) und um Cechovs Brief an seine Familienangehörigen vom März 1891.23)
Beide Texte sind reizvoll, aber nicht unproblematisch. Leskovs Bericht, der Kaiser hätte im Prater an einem Tisch mit dort zechenden Handwerkern Platz genommen, läßt bei mir leise Zweifel am Realitätsgehalt aufkommen. Bei Cechov wiederum weiß man nicht, ob sein Brief nicht nur ironisch gemeint war. Die Zusammensteller der umfangreichen sowjetischen Cechov-Ausgabe aus den fünfziger Jahren24) haben den Brief anscheinend todernst genommen und ihn vielleicht wegen "serviler Haltung gegenüber dem Westen" nicht berücksichtigt. Lassen wir jedoch Cechov selbst zu Worte kommen:
Meine cechischen Freunde! Ich schreibe euch aus Wien, wo ich gestern [d. i. am 19.3.1891, G. W.] um 4 Uhr nachmittags angekommen bin. Unterwegs ging alles gut. Von Warschau bis Wien reiste ich in der Eisenbahn wie Nana, im Luxuswaggon der "Internationalen Schlafwagengesellschaft": Betten, Spiegel, riesige Fenster, Teppiche usw.
Ach, meine tungusischen Freunde, wenn ihr wüßtet, wie schön Wien ist! Es ist mit keiner Stadt zu vergleichen, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Die Straßen breit, elegant gepflastert, eine Menge Boulevards und Grünanlagen, alle Häuser 6 und 7stöckig, und die Geschäfte - das sind keine Geschäfte, sondern einfach etwas Schwindelerregendes, ein Traum! In den Fenstern allein Milliarden von Krawatten! Was für wunderschöne Sachen aus Bronze, Porzellan und Leder! Die Kirchen riesig, aber sie erschlagen einen nicht mit ihrer Größe, sondern schmeicheln den Augen, weil es einem so vorkommt, als seien es Spitzenklöppeleien. Besonders schön sind der Dom des hl. Stephan und die Votiv-Kirche. Das sind keine Bauwerke, sondern Teegebäck. Großartig das Parlament, die Stadthalle, die Universität.
Alles ist großartig, und ich habe erst gestern und heute richtig begriffen, daß Architektur tatsächlich eine Kunst ist. Und dieser Kunst begegnet man hier nicht stückchenweise, wie bei uns, sondern sie erstreckt sich über einige Verst. Viele Denkmäler. In jeder Gasse ist unbedingt eine Buchhandlung. In den Fenstern der Buchhandlungen sieht man auch russische Bücher, aber oh weh! es sind nicht die Werke von Albov, von Barancevic und Cechov, sondern alle möglichen anonymen Autoren, die im Ausland schreiben und veröffentlichen. Ich habe "Renan" gesehen, die "Geheimnisse des Winterpalasts" usw. Merkwürdig, daß man hier alles lesen und sagen kann, was man will. Begreift, Ungläubige, was es hier für Droschken gibt, der Teufel soll sie holen. Das sind keine Droschken, sondern lauter nagelneue, schöne Kutschen mit einem, meist mit zwei Pferden. Schönen Pferden. Auf dem Kutschbock sitzen Gecken im Gehrock und Zylinder, sie lesen Zeitung. Höflichkeit und Zuvorkommenheit.
Das Essen ist gut. Vodka gibt es nicht, man trinkt Bier und ziemlich guten Wein. Eines ist schlecht: man muß für das Brot zahlen. Wenn man die Rechnung verlangt, wird man gefragt: "Wieviel Brödchen?", d. h. wieviel Brötchen hast du verspissen? Und sie nehmen dir für jedes Brötchen was ab.
Die Frauen sind schön und elegant. Und überhaupt alles ist verteufelt elegant.25)
Mit dieser Miniatur in Briefform, in der Cechov vielleicht bei seiner weitverzweigten Familie verbreitete übertriebene Vorstellungen von Wien ad absurdum führen wollte, möchten wir unsere Darlegungen beenden.
Wien im Leben und Werk von späteren Autoren, von Dichtern und Schriftstellern unseres Jahrhunderts gäbe Stoff für einen eigenen Aufsatz, wenn nicht für ein eigenes Buch: Von den Schloß Schönbrunn gewidmeten Versen der Marina Cvetaeva26) aus dem Jahre1909 bis zur unflätigen polyglotten "Hommage" an das legendäre Cafe "Havelka" eines durchreisenden Emigranten aus den sechziger Jahren27).
Auch viele sowjetische Autoren, am bekanntesten von ihnen Il'ja Erenburg, waren in Wien und haben über die Stadt und ihre Bewohner mehr oder minder wohlwollend geschrieben. Als 1934 der Februar-Aufstand losbrach, eilte Erenburg nach Wien. Er verfaßte eine Reportage, in der die Leninsche Lehre von den zwei Kulturen auf das österreichische Beispiel angewendet wurde. Die Dichotomie fortschrittliches Proletariat reaktionäres Bürger- oder Kleinbürgertum findet sich des öfteren, besonders bei den sowjetischen Schriftstellern der zweiten Nachkriegszeit. Die Befreiung Wiens und die zehnjährige Besatzungszeit haben eine ziemliche Anzahl von ihnen mit Wienern in Berührung gebracht. Die bekanntesten von ihnen sind Semen Gudzenko, Egor Isaev, Aleksej Nedogonov, Petr Pavlenko, Boris Polevoj und Anatolij Sofronov.28)
*) Der Verfasser verstarb im August 1991. Der vorliegende Beitrag, der aus einem Vortrag auf dem dritten österreichisch-sowjetischen Symposium der Kommission für Literaturwissenschaft der ÖAW hervorging, erschien im Erstdruck in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 23 (1992), 1. Halbband, S. 5-13. (Hrsg.)
1) M. D. KAGAN, "Povest' o dvuch posol'stvach" - legendarno politiceskoe proizvedenie nacala XVII veka. K charakteristike pamjatnika. In: Trudy Otdela drevne-russkoj literatury 11 (1955), S. 218-234.
2) Zum historischen Hintergrund vgl. EKKEHARD VÖLKL und KURT WESSELY, Die russische Gesandtschaft am Regensburger Reichstag 1576 ( = Schriftenreihe des Regensburger Osteuropainstituts Bd. 3), Regensburg 1976.
3) Zum literarischen und publizistischen Widerhall der Moskauer Gesandtschaft nach Regensburg vgl.: Russen und Rußland aus deutscher Sicht, München 1985, S. 168 f. (mit der Reproduktion eines zeitgenössischen Flugblattes.)
4) Über die Reise Šeremetevs gibt es eine Monographie von FRANCISZEK SIELICKI: Podróz bojarzyna Borysa Szeremietiewa przez Polska i Austria do Rzymu oraz na Malte 1697-1698. Z dziejów kontaktów kulturalnych Rusi moskiewskiej z Polska i Zachodem, Wroclaw etc. 1975 (S. 198-320 eine Übersetzung des Berichtes ins Polnische). Zu den politischen Hintergründen vgl. noch EDUARD WINTER, Rußland und das Papsttum, Teil 2, Berlin 1961, S. 21 f.
5) Vgl. NIKOLAJ TOLSTOJ, Das Haus Tolstoj. Vierundzwanzig Generationen russischer Geschichte 1353-1983, Stuttgart 1985, das Kapitel "Der Fluch des Zarewitschs" und die dazu angegebene Literatur (S. 57-114, 465-469).
6) DENIS IVANOVIC FONVIZIN, Sobranie socinenij, t. 2, Moskva-Leningrad 1959, S. 553.
7) Putešestvie po Saksonii, Avstrii i Italii v 1800, 1801 i 1802 godach, St. Petersburg 1805.
8) Wegen der Unzugänglichkeit des Originals mußte für Ljubjanskij auf die Wiener Hausarbeit von INGRID HANTSCH, Österreich in älteren russischen Reiseberichten, Wien 1967, S. 31-39, zurückgegriffen werden. Die russischsprachige Studie ist in der Fachbibliothek für Slavistik der Universität Wien zugänglich.
9) Sieben Briefe aus Wien (sechs von Turgenev, einer von Kajsarov) sind enthalten in: V. M. ISTRIN (Hrsg.), Putešestvie A.I.T. i A.S.K. po slavjanskim zemljam v 1804 godu (= Archiv brat'ev Turgenevych, vyp. 4), St. Petersburg 1915, S. 19-36.
10) Ebd., S. 32 f.
11) Ebd., S. 35.
12) NINA KAUCHTSCHISCHWILI, L'Italia nella vita e nell' opere di P. A. Vjazemskij, Milano 1964, S. 301.
13) P. A. VJAZEMSKIJ, Polnoe sobranie socinenij (= Staraja zapisnaja knizka 1853), t. 10. St. Petersburg 1886, S. 4.
14) Polnoe sobranie socinenij, t. 11, Pis'ma 1836-1841, Leningrad 1952, S. 296.
15) Ebd., S. 248.
16) Putevye pis'ma I. I. Sreznevskogo iz slavjanskich zemel'. 1839-1842, St. Petersburg. 1895, S. 111-119, 185-190, 264-280, 350-353.
17) Ebd., S. 116.
18) Ebd, S. 118.
19) Ebd, S. 119.
20) Ebd., S. 272.
21) IVAN SERGEEVIC TURGENEV, Polnoe sobranie socinenij i pisem v 28 tomach, Pis'ma t. 1, 1831-1850, Moskva-Leningrad 1961, S. 194.
22) Zuerst: Istoriceskij vestnik, 1881/1, S. 203-214, dann: Sobranie socinenij, Bd. 16, 1903, S. 157 ff.
23) Polnoe sobranie socinenij i pisem, Pis'ma t. 4, Moskva 1976, S. 199 ff.
24) Sobranie socinenij, t. 11, Moskva 1956.
25) ANTON CECHOV, Briefe 1889-l892, hrsg. und übers. von PETER URBAN, Zürich 1979, S. 226 f. (Briefe 2). Bei aller scheinbaren Einfachheit ist der Text Cechovs außerordentlich schwer halbwegs adäquat wiederzugeben. Die Probleme böten Stoff für eine übersetzungstheoretische Miszelle. Hier nur soviel: doma vse 6- i 7 etaznye - alle Häuser 6- und 7stöckig, richtig: 5- und 6stöckig oder 6- und 7geschoßig. okna Fenster (zweimal), hier besser: Schaufenster. duma - Stadthalle: es kann nur das neugotische Rathaus gemeint sein. slopal - verspissen: das Wiener Ambiente evoziert "verdrückt" oder "gemampft".
26) V. Šenbrunne, in: MARINA CVETAEVA, Stichotvorenija i poemy v 5 tomach, t. 1, New York 1980, S. 53 f.
27) KONSTANTIN K. KUZMINSKIJ, Leopold Havelka. In: The Blue Lagoon Anthology of Modern Russian Poetry, Bd. 2A, Newtonville, Mass. 1983, S. 539.
28) Vgl. MONIKA REITINGER, Österreich in den Augen der Sowjetliteratur nach 1945, Diss. Wien 1969. Über Erenburgs Grazdanskaja vojna v Avstrii S. 3-11.