Sprachkunst Jahrgang LIV/2023, 1. Halbband, pp. 5-22, 2023/12/27
Beiträge zur Literaturwissenschaft
Jahrgang LIV/2023, 1. Halbband
Die stiefmütterliche Behandlung der ›Phädra‹ im deutschsprachigen Raum geht auf die kritische Haltung Schillers und Goethes gegenüber der vermeintlichen Manieriertheit des hohen Stils der französischen Klassik zurück. Dass Schillers Vorbehalte nur bedingt auf die ›Phädra‹ zutreffen, lässt sich an der Tatsache festmachen, dass er selbst das Drama kurz vor seinem Tod für die Weimarer Bühne übersetzte. Anhand seiner eigenen Übersetzung wird zu sehen sein, nicht wie fern, sondern wie nah ihm Racines Welt ist. Im Vergleich mit Simon Werles kongenialer ›Phädra‹-Übersetzung von 1986 wird sich zeigen, dass Schiller irrte, wenn er den Alexandriner für unübersetzbar für die Bühne hielt – denn er übersetzte im Blankvers! Wenn Schiller auch schon sah, dass Racines semantische und metaphorische Welt der deutschen Bühne verwandt sind, wird durch Werles Übersetzung offensichtlich, dass sogar die Versmelodie des Alexandriners dem Ohr eines deutschsprachigen Publikums zumindest näherungsweise eingängig gemacht werden kann.